Antonio Gramsci – Philosophie, Alltagsverstand und Revolution | Robert Misik (2025)

Die Macht der Ideen

Gramsci hat erkannt, schreibt Hobsbawn in seiner bereits zitierten Würdigung, „dass Politik mit mehr als nur Macht verbunden ist … Er vergaß niemals, dass Gesellschaften mehr sind als Strukturen ökonomischer Herrschaft und politischer Macht, dass sie einen bestimmten Zusammenhalt haben, auch wenn sie durch Klassenkämpfe gespalten sind.“ Anders gesagt: dass sie von Institutionen, Traditionen und Konventionen bestimmt werden, die auf einer anderen Ebene wirksam sind als der bloße staatliche Zwangsapparat. Gramsci besteht darauf, „dass man unter Staat außer dem Regierungsapparat auch den ‚privaten’ Hegemonieapparat oder die Zivilgesellschaft verstehen muss“. Dies kumuliert in der berühmten Formel aus den Gefängnisheften: „Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang“. Gramsci war klar, dass „die Linke“ politische Konsequenzen aus dem Umstand zu ziehen habe, dass Herrschaft auf einer „Kombination von Zwang und Konsens“ gründet. Kurzum: In der modernen Gesellschaft ist es nicht so, dass eine kleine Gruppe „Herrschender“ mit Zwang unterdrückt, sondern dass eine „herrschende Ordnung“ ihre Stabilität daraus zieht, dass eine Mehrheit an sie glaubt. Wolle man also die herrschende Ordnung verändern, müsse man diesen Glauben brechen, was heißt: einen neuen entwickeln. Politischer Kampf ist der Kampf um die Hegemonien an Ideen, spontanen Weltverständnissen und so weiter.

Gramsci ist sich der Macht der Ideen bewusst, der Religion, ja der Philosophie, besonders, wenn sie in den „Alltagsverstand“ des Volkes eingeht, den er die „Folklore der Philosophie“ nennt („Jede philosophische Strömung hinterlässt eine Ablagerung von ‚Alltagsverstand’; diese ist das Zeugnis ihrer historischen Leistung“). Für ihn sind Ideologien nicht Schein, auch kein raffiniertes Mittel zur Niederhaltung der Unterdrückten, sondern sie haben schlicht „objektive und wirkende Realität“. Pointe am Rande: Das Wort „Zivilgesellschaft“, heute in aller Munde, ist eine von Gramsci geprägte Vokabel, die selbst schon in den „Alltagsverstand“ hinabgesunken ist.

Noch und gerade in ihren einfachsten Bildern erweisen die ideologischen Bodensätze ihre Wirksamkeit („Gesetz ist Gesetz“, „Jeder ist seines Glückes Schmied“). Dass auch die Unterprivilegierten an diese Erzählungen „glauben“, ist mehr als Folge einer Übertölpelung in herrschaftlicher Absicht, dies zu verändern im Umkehrschluss nicht schlichte Aufgabe einer „Aufklärung“ über „falsches Bewusstsein“. Und genauso wie man in solch alltäglichen Sedimenten des Alltagsverstandes wie etwa Sprichwörtern noch die Akzeptanz von Herrschaft aufspüren kann, genauso gibt es zugleich Ablagerungen, Schwundformen des Subversiven, die Gramsci punktgenau aufspürt, etwa in der Tatsache, dass „der Bauer den Beamten hasst, nicht den Staat“.

Gramsci war jemand, der zeitlebens hinsah, der die einfachen Leute, deren spontane Weltsichten genauso spannend fand wie Alltagsrituale oder philosophische Konzepte, der im hohen Ansehen der Naturwissenschaften das Kultische wahrnahm, der sich bei Hegel-Lektüre genauso wie bei Populärliteratur, etwa bei Die drei Musketiere, fragte, welche Weltbilder sich in ihnen verdichten und gleichzeitig verbreitet werden.

Seiner Zeit voraus

Ideologische Hegemonien zu durchbrechen braucht, so können wir im Anschluss an Gramsci zeitgemäß formulieren, andere Erzählungen, die umso machtvoller sein werden, je mehr sie selbst in Traditionen, im Alltagsverstand, in Gewohnheiten zu ruhen vermögen: eine „hegemoniale Strategie“. Diese ist, so Gramsci, „eine komplexe ideologische Arbeit, deren erste Bedingung die genaue Kenntnis des Feldes ist“. Darum auch Gramscis Interesse für die volkstümlichen Sedimente der Theorien, die er die „spontane Philosophie“ nennt, „die ‚jedermann’ eigen ist“.

Deshalb, und weil die Ideologien „die Massenseite jeder philosophischer Auffassung“ sind, weist Gramsci den Intellektuellen eine herausragende Rolle im Kampf um den Konsens zu. Er führt den Begriff der „organischen Intellektuellen“ ein, die die „organischen Intellektuellen einer Klasse“ (entweder der herrschenden oder subalternen) seien.

Was ist eine Gesellschaft? Welcher Konsens hält sie zusammen und die bestehende Ordnung aufrecht? Wie wird dieser Konsens organisiert? Welches ist die Bedeutung der Tradition, der Intellektuellen, der Ideen in diesem Feld? Wie wird eine Weltauffassung, eine bestimmte Vorstellung von Gesellschaft dominant? Gramsci buchstabiert das durch, an Hand von Romanen, aber auch von Phänomenen wie Modernisierung, Amerikanisierung, Religion, Sprichwörtern. Jede Zeitungsnotiz ist ihm Quelle. Welch gefundenes Fressen wäre etwa für Gramsci eine deutsche Bundeskanzlerin, die ihre Austeritätspolitik mit dem Bild der „sparsamen schwäbischen Hausfrau, die nur ausgibt, was sie einnimmt“ unter die Leute bringt? Oder ein Finanzminister, der die Renationalisierung in Europa mit dem Goethe-Wort schönredet, „ein jeder kehre vor seiner eigenen Tür und sauber ist das Stadtquartier“?

„Die Menschheit ist noch ganz aristotelisch. Dass das Erkennen ein ‚Sehen’ statt eines ‚Tun’ sei, dass die Wahrheit außer uns sei, bezweifelt niemand, und man riskiert, für verrückt gehalten zu werden, wenn man das Gegenteil behauptet.“

Der kleine zarte Mann hinter Kerkermauern war isoliert und hat das atemberaubendste politisch-philosophische Gesamtwerk des 20. Jahrhunderts hinterlassen. Ja, es ist sogar eine unbestreitbare und zugleich unerhört klingende Tatsache, dass Gramsci wohl nie dazu gekommen wäre, ein solches Werk zu verfassen, wenn er nicht von Mussolini eingekerkert worden wäre. Es ist immer noch bemerkenswert, wie weit er den philosophischen Doktrinen seiner Zeit voraus war, beispielsweise wenn er schreibt: „Die Menschheit ist noch ganz aristotelisch. Dass das Erkennen ein ‚Sehen’ statt eines ‚Tun’ sei, dass die Wahrheit außer uns sei, bezweifelt niemand, und man riskiert, für verrückt gehalten zu werden, wenn man das Gegenteil behauptet.“ Dass das Wissen eher eine Praxis als ein Erkennen ist, unterschiedliche Narrative verschiedene „Wissen“ produzieren, all das, was später die Postmoderne durchbuchstabierte, blitzte bei Gramsci schon auf. Gedanken, wie sie dann etwa Jean-Francois Lyotard in seinem Das postmoderne Wissen populär machte, sind ferne Echos, die erst 50 Jahre danach en vogue wurden.

„Sektiererische Abkapselung“, schreibt Gramsci-Biograf Fiori knapp und punktgenau, „war Gramsci zuwider“. Wer für den Fortschritt kämpfen will, muss sich mit der Realität abgeben, auch mit den Vorurteilen der Leute. Sozialismus wird man in modernen Gesellschaften keinen errichten, wenn man putschistische kommunistische Miniparteien aufbaut – das war Gramscis sichere Gewissheit. Gramsci ist heute wichtiger Bezugspunkt von Linksparteien wie Syriza und Podemos, zugleich aber auch der einzige kommunistische Denker, den auch Sozialdemokraten seit den 1980er Jahren für sich adoptierten.

Gibt es ein Ich jenseits der Umstände?

Als Politiker von großer Urteilskraft hatte er zugleich einen literarischen, philosophischen und auch poetischen Blick auf die Welt, und er warf ihn auch auf sich selbst, als sich sein Ich im Gefängnis schon aufzulösen begann. Er denke, schrieb er an seine Schwägerin Tanja Schucht, an einen Schiffbrüchigen, den die Umstände so verformen, dass er ein Menschenfresser werde. Als moralischer Beobachter oder späterer Richter würde man zu klären haben, wie diese Menschen zu Kannibalen werden konnten. „Aber sind das wirklich dieselben Menschen?“, fragte Gramsci. Gibt es ein Ich jenseits der Umstände? Ein normaler Mensch kann es sich nicht vorstellen, einen anderen zu essen, ein Schiffbrüchiger nach einiger Zeit sehr wohl, und „zwischen den beiden Zeitpunkten … hat sich ein Prozess der ‚molekularen’ Transformation vollzogen“; zu sagen, „dass es sich noch um dieselben Menschen handelt“, ist womöglich bloße Konvention.

Ohne Zweifel erkannte Gramsci sich da schon in diesen Schiffbrüchigen wieder. Die Zähne fielen ihm aus, er hatte fortschreitende Lungentuberkulose und eine tuberkulöse Wirbelsäulenentzündung. Seine Wirbel lösten sich nach und nach auf, und auf dem ganzen Rücken bildeten sich Abszesse. Gramsci befand sich in einem Prozess des langsamen Sterbens, was ihn nicht daran hinderte, noch diesen Prozess der Selbstauflösung literarisch-philosophisch zu kommentieren. ■

Antonio Gramsci – Philosophie, Alltagsverstand und Revolution | Robert Misik (1)Robert Misik ist Journalist, Sachbuchautor und lebt in Wien. Zuletzt von ihm erschienen: Die falschen Freunde der einfachen Leute (Suhrkamp Verlag, 2019).

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